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20.10.2017
Vortragsempfehlung: Patrioten, Sängerfreunde und Arbeiterbrüder? Bilder aus dem deutschen Vereinsleben des 19. Jahrhunderts
Frau Dr. Fuchshuber-Weiss beleuchtete beim RWV München mit ihrem fast 2-stündigen Vortrag einen Aspekt der Geschichte des 19.Jahrhunderts in allen Facetten, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind.
In der bewegten, abwechslungsreichen Geschichte des Vereinswesens tritt auch Richard Wagner auf. Die Referentin bietet an, diesen Vortrag, der in München auf große Resonanz stieß, für weitere deutsche Verbänden zu halten, Nachfrage bei karl.russwurm@gmx.de 

Im 19. Jahrhundert erfasste Deutschland ein wahres "Vereinsgründungsfieber". Selbstbestimmung, Gemeinsinn und politische Ziele waren die Triebkräfte. Die Staatsmacht, repräsentiert durch die Fürsten des Deutschen Bundes, stemmte sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diesen Selbstverwirklichungswillen der Zivilgesellschaft. Man fürchtete um die öffentliche Sicherheit. Erst allmählich ließ der staatliche Druck nach. Nun traten die bürgerlichen Vereine aus der Opposition heraus und schwenkten ins monarchische, national-liberale Lager um. Im Zuge der Reichsgründung bekannten sie sich zum Nationalstaat und wurden integrativer Kulturfaktor des Kaiserreichs. Nur die Arbeiterassoziationen konnten erst 1890 nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes die Vereinigungsfreiheit legal für sich in Anspruch nehmen.

In patriotischen Vereinen schlossen sich liberal und national gesinnte Männer des Bürgertums zusammen. Die sächsischen Vaterlandsvereine z. B. kämpften während der Märzrevolution für Einheit, Freiheit und den freien Volkswillen.

In Singakademien und Liedertafeln pflegten begeisterte Sänger den patriotischen Gedanken und die Geselligkeit. Einen wichtigen bündischen Zusammenhalt stifteten die öffentlichen Sängerfeste und überregionalen Sängerbünde.

Auch Arbeiter bildeten eigene solidarische Organisationen, zum Teil getarnt als Bildungsvereine. Als neuer, "vierter Stand" der sich entwickelnden Industriegesellschaft fanden sie auch durch ihre Assoziationen zu einem eigenen Klassenbewusstsein.

In der bewegten, abwechslungsreichen Geschichte des Vereinswesens tritt auch Richard Wagner auf. Kurz nach seiner Ernennung zum sächsisch-königlichen Hofkapellmeister in Dresden im Februar 1843 leitete er eine Zeitlang gleichzeitig als "Liedermeister" die Dresdner Liedertafel. 1848 wurde er Mitglied des Vaterlandsvereins. Wie wichtig Wagner das kulturpolitische Wirken der freien Vereine war, zeigt sein?Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen den er in dieser Zeit verfasste. Er trat für die "Gründung eines Vereins der dramatischen Dichter und Komponisten" ein. Sein Aufsatz? Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtume gegenüber??, der im Dresdner Anzeiger veröffentlicht wurde, trug den Autorenvermerk "Ein Mitglied des Vaterlandsvereins".

Die Vereine lösten die Gesellschaft von ständischen und religiösen Fesseln, trugen Wesentliches zur inneren Befriedung bei und prägten als Vorformen der politischen Parteien die Demokratiegeschichte. Ihr kulturelles Wirken bereicherte das Alltags- und Festtagsleben. Trotz rigider Einschränkungen rangen sie dem Staat nach und nach in Einzelgesetzen Zugeständnisse an die Vereinigungsfreiheit ab. Am 1. Januar 1900 wurde das Vereinsrecht in das BGB übernommen. Schließlich fand die Auseinandersetzung der Zivilgesellschaft mit der Staatsmacht, die 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen das Vereinsleben nahezu erstickt hätte, ihr Ende: 1919 wurde die Vereinigungsfreiheit im Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung festgeschrieben.